Millingen war schon immer ein idyllisches Dorf am Rhein. Die Menschen kannten einander und halfen sich gegenseitig, wenn es nötig war. Doch es gab eine Zeit, in der dieses friedliche Miteinander jäh gestört wurde. Damals wurde die Gegend jedes Mal bei Neumond von einem fürchterlichen Werwolf heimgesucht, der Verwüstung anrichtete und Tiere riss. Einige Dorfbewohner wussten auch, woher der Wolf kam…
In einer dieser Nächte sollte wieder Neumond sein. Nach der Dämmerung war keine Menschenseele mehr zu sehen. Türen und Fenster waren fest verriegelt. Nur in einem Haus brannte noch Licht: im einfachen Fischerhaus von Dorus van de Dries. Dort saßen sieben kräftige Männer schweigend um ein Feuer. Alle wussten, was heute Nacht geschehen würde.

Auch Dorus saß mit eingesunkenen Schultern und vorgebeugten Oberkörper am Feuer. Es gab kein Entkommen. Seit Jahren quälte ihn ein schrecklicher Fluch. Denn in jeder Neumondnacht fiel ein haariges Wolfsfell durch seinen Schornstein und zwang ihn, sich dieses überzustülpen und verwandelte ihn in einen Werwolf. Was hatte er nicht alles probiert. Er hatte das Haus verbarrikadiert, den Schornstein zugestopft, sich im Keller eingeschlossen … nichts half. So lebte Dorus in ständiger Angst und Scham.
Doch an diesem Abend war etwas anders. Seine Freunde – einfache, raue Fischer – hatten beschlossen, ihm zu helfen. Manus hatte den Vorschlag gemacht, und nun saßen sie dort, bewaffnet mit Mut, Gebeten und eiserner Entschlossenheit. Keiner sagte ein Wort. Schweigend rauchten sie ihre Pfeifen. Sie wussten, was zu tun war. Ab und zu warfen sie einen Blick zur Uhr. Die Zeiger tickten langsam und näherten sich unheilvoll der Mitternachtsstunde.
Mit jedem Tick wuchs die Spannung. Die Männer zündeten sich eine weitere Pfeife an und steckten sich einen Kautabak hinter die Zähne. Das half etwas. Nur Dorus wurde immer unruhiger. Er rutschte auf der Bank hin und her, wobei ihm der kalte Schweiß auf seiner Stirn stand. Ein panikartiges Gefühl ermächtigte sich mehr uns mehr seinem Körper.

Es waren noch ein paar Minuten bis zwölf. Manus und Derk behielten Dorus gut im Auge und rückten näher an ihn heran. Jannes, sonst ein munterer Kerl, fühlte eine beklemmende Angst in sich aufsteigen und begann, das Vaterunser zu beten. Er betete und ein paar schwere, kehlige Stimmen stimmten leise ein. Der Wind heulte um das Haus und der Regen prasselte gegen die Fensterläden.
Die Nervosität, die immer stärker wurde, war deutlich zu spüren. Mitternacht stand kurz bevor. Steven Alver, ein Baum von einem Kerl, stand auf und ging zu dem Haufen Dornenzweige, der neben der Feuerstelle bereitlag. Er warf ein paar kräftige Büschel auf das Feuer, das nun plötzlich hell zu lodern begann. Die Flammen schlugen hoch bis zum Schornstein und die Männer zogen sich ein wenig zurück, Dorus dabei immer fest im Blick.
Die Uhr ratterte und schickte sich an, zu schlagen. Steven und Mojje standen auf und stellten sich mit einem schweren Lachshaken in der Hand zu beiden Seiten des Kamins auf. Jannes betete laut das Vaterunser. Währenddessen hielten Derk und Manus mit aller Kraft Dorus fest, der angefangen hatte, um sich zu schlagen und dabei versuchte, näher an den Schornstein heranzukommen. Dabei standen ihm die Haare zu Berge und die Augen quollen fast aus seinem Kopf.
Da schlug die Uhr: eins… zwei… Von allen Seiten schien der Wind heftig in das Haus eindringen zu wollen. Fensterläden rüttelten, Türen klapperten und die Öllampe zischte. Feuer und Rauch schlugen aus dem Schornstein. Heißer Qualm drang in den Raum. Drei… Die Uhr schlug weiter. Dorus wirbelte herum und versuchte, sich zu befreien, aber Derk und Manus hielten ihn mit Hilfe der anderen fest. Sie keuchten vor Anstrengung, als Dorus mit ungeheurer Kraft zum Kamin getrieben wurde.
Kaum hatte die Glocke zum zwölften Mal geschlagen, schlugen die Flammen wie durch einen weiteren Windstoß hoch empor. Den Fischern blieb der Atem in der Kehle stecken. Dann kam das, worauf sie den ganzen langen Abend gewartet und wovor sie sich am meisten gefürchtet hatten. Ein pelziges, dunkles Wolfsfell fiel durch den Schornstein. Schnell stürzten sich Steven und Mojje darauf und schoben das Fell mit äußerster Kraftanstrengung in das wieder auflodernde Feuer. Schwarzer, stinkender Rauch stieg auf. Giftgrüne Flämmchen züngelten um das zuckende und nun brennende Wolfsfell.
Die Männer wurden fast von dem fauligen Rauch erstickt. Aber sie hielten stand. Noch immer hielten sie Dorus fest und verharrten wie versteinert, bis das ganze Fell in Flammen aufging. Und je schwärzer das Fell wurde, desto ruhiger wurde auch Dorus. Mojje stieß noch einmal mit seinem Lachshaken in das Feuer, so dass von dem unglückbringenden Fell nichts mehr übrig blieb.
Dorus wischte sich den Schweiß von der Stirn, seufzte tief und brach dann in schallendes Gelächter aus. Es war, als wäre er aus einem bösen Traum erwacht. Noch etwas benommen sah er sich um und bemerkte, dass auch die anderen bleich um die Nase waren und ihnen das Herz noch immer bis zum Hals schlug. Jannes gewann als erster seine Fassung zurück. In Windeseile füllte er mehrere Gläser mit Schnaps und gemeinsam stießen sie auf ihren Erfolg an.
Nachdem das Wolfsfell verbrannt worden war, musste sich nie wieder jemand Sorgen machen, dass ein Werwolf das friedliche Dorf heimsuchen würde. Das Böse war gebannt. Und das verdankte Dorus seinen besten Kameraden, den alten Fischern von Millingen.