Hast du schon von dem Mann gehört, der über den Bodensee lief?

Einst lebte ein alter Mann abge­schieden, nicht weit vom Ufer des Boden­sees entfernt. Bevor er sich in die Einsam­keit des Waldes zurück­zogen hatte, führte er ein ganz normales Leben unter den Menschen, geprägt von harter Arbeit und Entbeh­rungen. Doch trotz aller Mühsal bewahrte er sich ein gutes Herz und schenkte jedem, dem er begeg­nete, ein freund­li­ches Wort.

Nachdem er sich dazu entschlossen hatte, ein ruhi­geres Leben fernab von aller Geschäf­tig­keit zu führen, bezog der alte Mann eine beschei­dene Hütte am Rande des Waldes. Schnell fand er Gefallen an der stillen Einsam­keit. Je länger er sich allein inmitten der Natur befand, desto mehr entdeckte er an sich Fähig­keiten, die ihm bis dahin verborgen geblieben waren. Wenn er mit Kranken sprach, die gele­gent­lich an seine Tür klopften, sah er, dass es ihnen bald besser ging und sie gesund wurden. Aber nicht nur die Menschen, auch Tiere des Waldes suchten seine Nähe. Oft waren einige von ihnen rund um seine Hütte zu sehen. Zuneh­mend gewann er auch den Eindruck, ihre Sprache zu verstehen.

Die Menschen der Umge­bung nannten ihn fromm und gottes­fürchtig, obwohl er kaum eine Kirche von innen gesehen hatte. Zudem war er des Lateins nicht mächtig. Doch bald verbrei­tete sich die Kunde, er sei auser­wählt, Wunder zu voll­bringen.

Davon hörte auch der Bischof von Konstanz. Um sich von dem Erzählten selbst zu über­zeugen, brach er auf, um den Einsiedler zu besu­chen. Mit seinem Gefolge bestieg er in Buch­horn ein Schiff und über­querte den Bodensee. Am nächsten Morgen erreichten sie die beschei­dene Hütte des alten Mannes.

Der Einsiedler war sehr über­rascht, empfing die Gäste jedoch mit warm­her­ziger Gast­freund­schaft in seinem kargen Heim. Bereits bei ihrer Ankunft wunderte sich der Bischof sehr, dass ein so einfa­cher und naiver Mann die ihm berich­teten Wunder tatsäch­lich voll­bringen konnte. Deshalb fragte er den Einsiedler, welches Gebet er eigent­lich immer spreche.

Der alte Mann antwor­tete darauf etwas verlegen: „Misere me, Dominus“. Mit erstaunt hoch­ge­zo­genen Augen­brauen musste sich der Bischof, und wohl auch der ein oder andere, ein Lächeln verkneifen. Für den Geist­li­chen genügte, was er gerade gehört hatte, um die Situa­tion zu beur­teilen. Für ihn war deut­lich, dass jemand, der in einem so kurzen Gebet gleich drei Fehler machte, unmög­lich von Gott die Kraft erhalten hatte, Wunder zu bewirken.

Er legte dem Alten deshalb wohl­wol­lend den Arm um die Schulter und korri­gierte: „Das muss heißen: Mise­rere mei, Domine!“. Voller Scham senkte der Einsiedler den Blick. Zusammen mit dem Bischof wieder­holte er das Gebet noch mehr­mals und versprach, künftig stets die korrekten Worte zu spre­chen.

Sage vom Bodensee - der alte Mann, der über den Bodensee lief

Da der Bischof keinen weiteren Anlass sah zu bleiben, machte sich seine Gruppe wieder auf den Heimweg. Als sie mit ihrem Boot auf dem Bodensee waren, zupfte der Steu­er­mann plötz­lich den Geist­li­chen am Ärmel. Ohne etwas zu sagen, zeigte er stumm auf das Wasser, genau in die Rich­tung, aus der sie gerade gekommen waren.

Der Bischof erkannte schnell den alten Mann, der ihrem Schiff über das Wasser folgte und dabei tatsäch­lich über den Bodensee lief. Dabei winkte der Alte und rief ihnen zu, sie sollten bitte kurz anhalten. Erstaunt ließ der Bischof das Schiff stoppen.

Als der Einsiedler das Schiff erreicht hatte, lehnte er sich noch ganz außer Atem über die Reling. Demütig bat er den Bischof, ihm das Gebet noch­mals zu wieder­holen. Da er so betagt war, sagte der Alte, habe er die Worte des Kirchen­herrn bereits wieder vergessen und könne sich nur noch an seine eigenen erin­nern. Der Bischof über­legte kurz und lächelte milde: „Bete so weiter wie bisher! Du betest besser als ich!“ Dann hob er seine Hand über den alten Mann und sprach ihm seinen Segen aus.

“Hast du schon von dem Mann gehört, der über den Bodensee lief” ist eine frei nach­er­zählte Sage, Origi­nal­ge­schichte: Wilhelm von Scholz, Boden­see­buch 31 (1944), S.24, Eine alte Bodensee-Sage

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