Die Loreley vom Rhein

Loreley am Rhein

Einst, in längst vergan­genen Zeiten, lebte in einer Höhle am Rhein die Jung­frau Loreley. Sie sang mit so lieb­li­cher Stimme, dass alle, die sie hörten, verzau­bert lauschten. Wenn die Fels­wände den warmen Schimmer der Abend­sonne oder die Wasser­ober­fläche das Licht des Mondes wider­spie­gelten, konnte man oft die feen­gleiche Gestalt der Loreley hoch oben auf dem Fels entde­cken.

Viele der vorbei­fah­renden Schiffer waren so sehr vom Gesang einge­nommen, dass sie nicht mehr auf ihren Kurs achteten und an den heim­tü­cki­schen Felsen zerschellten. Dabei hatten nur wenige die wunder­schöne Jung­frau jemals aus der Nähe gesehen. Den Fischern, welchen die Loreley zugetan war, zeigte sie die Stellen im Fluss, wo ein reicher Fang zu erwarten war. Da diese schnell zu ansehn­li­chem Wohl­stand kamen, verbrei­tete sich die Erzäh­lung von der Loreley schnell bis über die Grenzen des mittel­rhei­ni­schen Landes hinaus.

So erfuhr auch der junge Erbgraf von der Pfalz von der geheim­nis­vollen Jung­frau. Von Sehn­sucht getrieben, verließ der aben­teu­er­lus­tige Jüng­ling sein Hoflager, um die Loreley für sich zu gewinnen. Als die Sonne bereits unter­ge­gangen war und die ersten Sterne am Himmel erschienen, erreichte sein Boot die Stelle am Rhein. Hoch oben auf dem steilen Felsen erblickte er im Banne ihres wunder­samen Gesangs die lieb­rei­zende Erschei­nung der jungen Frau. Während sie ihr betö­rendes Lied sang, band sie einen Kranz für ihre goldene Locken­pracht.

Der Graf verliebte sich sofort unsterb­lich in die holde Schön­heit. Unge­stüm trieb er die Ruder­knechte an, um an Land zu gehen. Doch statt auf das nahende Ufer und die Felsen zu achten, blickten alle nur zur Loreley empor. Als das Boot noch führerlos auf den Wellen trieb, wurde der Grafen­sohn von so großer Unge­duld gepackt, dass er nicht länger warten wollte. Obwohl er noch viel zu weit vom Land entfernt war, wagte er den Sprung. Anstatt mit den Füßen auf festem Boden zu landen, versank er im Sog eines starken Stru­dels. Die Wogen des Rheins schlugen mit großer Wucht über dem Jüng­ling zusammen und er wurde nie wieder gesehen.

Als der alte Pfalz­graf vom Tod seines Sohnes erfuhr, ergriff ihn neben der Trauer auch eine große Wut. Er befahl, die Verur­sa­cherin dieses Leids unver­züg­lich gefangen zu nehmen — egal, ob lebend oder tot. Noch am glei­chen Abend brachen Krieger unter der Führung eines Haupt­manns vom Hof auf, um den Auftrag auszu­führen.

Als sie am Rhein ankamen, erspähten sie die Loreley hoch auf dem Felsen. Sie versperrten den Weg zu ihrer Grotte und umstellten den Berg. Der Haupt­mann befahl ihr, sich zu ergeben. Die so in Bedrängnis Gebrachte lachte nur höhnisch, warf ihre Perlen­kette in den Rhein und schrie in schau­er­li­chem Ton hinab zu dem Fluss: “Vater, Vater, geschwind, geschwind, die weißen Rosse schicke deinem Kind, es will reiten mit Wogen und Wind!”.

Da erhoben sich plötz­lich riesige Wellen. Sie trugen die Jung­frau auf ihren weißen Schaum­kronen den Rhein hinunter, hinein in das Abendrot. Die Männer blickten ihr schau­dernd hinterher. Es sah aus, als ob die Wellen die Form von riesigen Pferden hätten, auf deren Rücken die Loreley lachend ritt. Nachdem sie verschwunden war, wurde sie nie wieder am Rhein gesehen. Nur ein viel­fäl­tiges Echo verhöhnt die Rufer am Fels, die nach ihr Ausschau halten.


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Quelle:  Im Sagen­land der Loreley, Ludwig Nies, Loren­bergk ‑Verlag — St. Goar­shausen.

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