Eine Sage von der Loreley
frei nach dem Gedicht von Clemens Brentano
Einst, als die Wälder undurchdringlich und die Flüsse noch wilder waren, lebte am Ufer des Rheins ein bildhübsches junges Mädchen namens Loreley. Sie war von feiner Statur und voller Anmut. Wenn sie ihre langen, goldblonden Haare über die Schulter fallen ließ, konnte sich selbst die Sonne in ihnen spiegeln. Viele Männer verfielen ihrem feenhaften Wesen und verliebten sich in sie. Aber ihr Herz gehörte allein Ritter Eberhard. Sie liebte ihn aufrichtig und hatte ihm ewige Treue geschworen.
Doch es waren unruhige Zeiten, in denen das Land vom Krieg heimgesucht wurde. Auch Eberhard musste in den Kampf ziehen. So gingen die Jahre vorüber, in denen Loreley keine einzige Nachricht von ihrem Geliebten erhielt, nicht einmal ein Lebenszeichen. Sie wartete, voller Hoffnung und Schmerz. In ihren Gedanken weilte Loreley die ganze Zeit bei Eberhard. Sie hatte kein Auge für irgendeinen anderen Mann, egal, wie edel, liebenswert oder stattlich er war.
Bald entstand das Gerücht, die junge Frau müsse eine Hexe sein. Wie sollte es sich sonst erklären lassen, dass sie allen Männern widerstand, die sie mit ihrem Liebreiz um den Verstand brachte, und freiwillig die Einsamkeit wählte? Da man keine andere Erklärung fand, wurde sie wegen Hexerei angeklagt und vor Gericht gestellt. Der Erzbischof von Köln, der den Vorsitz führte, war jedoch auch nur ein Mann und so sehr von der jungen Frau angetan, dass er Mitleid mit ihr hatte.
So entging die Loreley einer Verurteilung durch Verbrennung auf dem Scheiterhaufen, die zu jener Zeit eigentlich die übliche Strafe für Hexen war. Stattdessen sollte sie ein gottesfürchtiges Dasein in einem nahegelegenen Kloster führen, so dass sie keine Männer mehr in Versuchung bringen konnte. Da ihr Glaube an Eberhards Rückkehr längst geschwunden war, fügte sie sich ihrem Schicksal und dem Urteil.
Bevor sie jedoch für immer im Kloster eingeschlossen werden sollte, hatte sie auf ihrem Weg dorthin noch einen letzten Wunsch. Sie wollte noch einmal auf den hohen Felsen am Rhein steigen und an der Stelle auf den Fluss hinunterschauen, an der sie viele Jahre lang auf ihren Liebsten gewartet hatte. Die drei Ritter, die die Aufgabe hatten, sie zu bewachen und zum Kloster zu bringen, sollten sie dabei begleiten.
Als Loreley auf dem Felsen angekommen war, schaute sie mit wehendem Haar in die Ferne und erblickte plötzlich die Segel eines herannahenden Bootes. Voller Spannung und freudiger Erregung wartete sie, bis es sich genähert hatte. Als sie sah, dass ihr Ritter am Steuer stand, löste sich ihre Erstarrung bald im Jubel auf. Laut rief sie seinen Namen. Jetzt erblickte auch Eberhard seine Liebste und winkte ihr zu. Er war so gebannt von ihrer engelsgleichen Erscheinung, dass er nicht mehr auf den Kurs achtete und mit seinem Boot direkt auf die Felsen zusteuerte, wo es zerschellte.
Von hoch oben musste Loreley dieses Unglück mitansehen, ohne etwas tun zu können. Völlig entsetzt und in der Hoffnung, doch noch bei ihrem Liebsten sein zu können, stürzte sie sich vom Felsen. Die drei Ritter, die bei ihr waren und versuchten, sie aufzuhalten, wurden mit ihr zusammen in die Tiefe gerissen. Den entsetzten Schrei, den Loreley ausstieß, als sie zu ihrem Liebsten in den Rhein stürzte, soll man noch heute ab und zu hören können.
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