Eine Sage aus Krefeld
Vor langer Zeit lebten in Hüls zwei Ehepaare, die sich sehnlichst ein Kind wünschten. Doch ihr Wunsch blieb lange unerfüllt. Erst spät, als niemand es mehr für möglich hielt, erfüllte sich ihr Traum. Wie der Zufall es wollte, erwarteten beide Frauen zur selben Zeit ihr Kind: Die Frau des Schneiders gebar ein Mädchen, die des Kartoffelbauern einen Jungen. Die Kinder kamen nur wenige Stunden nacheinander zur Welt – in einer Sternschnuppennacht, was als besonders gutes Omen galt. Das Mädchen wurde Marieke genannt, der Junge Klaus.
Da die Familien nicht weit voneinander entfernt wohnten, wuchsen Marieke und Klaus eng miteinander auf. Als sie zwölf Jahre alt waren, wütete im ganzen Land eine tödliche Seuche. Auch Hüls blieb nicht verschont – und beide verloren ihre Eltern und wurden sie früh zu Waisen. Doch die Kinder hatten Glück im Unglück. Eine herzensgute alte Witwe aus dem Dorf nahm sich ihrer an. Die Schneiderei von Mariekes Eltern wurde verpachtet, und sie lebten fortan gemeinsam in dem Elternhaus von Klaus. So wuchsen Marieke und Klaus weiter zusammen auf und wurden unzertrennlich.

Eines Tages klopfte ein greiser Steinschleifer an die Tür der Witwe. Er war auf der Suche nach einer Bleibe für seinen Lebensabend und hatte von einem entfernten Verwandten von der Güte der alten Frau erfahren. Sie nahm ihn gern auf, und bald schon lehrte er Klaus die Kunst des Steinschleifens. Der Junge war ein eifriger und begabter Lehrling.
Auf der Suche nach ganz besonderen Steinen schlich er sich eines Abends aus dem Haus. Es war eine mondhelle Nacht, und er ging zum Weiher, in dem die von allen gefürchtete Moorhexe hauste. Trotz aller Warnungen wollte er die seltenen Kiesel, die es nur im Moor gab, von dort holen. Es war nicht einfach, die Steine zu finden. Als er schließlich genug eingesammelt hatte und sich gerade auf den Rückweg machen wollte, sah er plötzlich einen Schatten zwischen den abgestorbenen Bäumen huschen. Schnell verließ er das Moor – und kam wohlbehalten zu Hause an.
Aus den Kieseln schliff er in den darauffolgenden Monaten wunderschöne Perlen. Nach zwei Jahren war sein Werk endlich vollendet. Klaus fädelte die schimmernden Steine zu einer Kette auf, die geheimnisvoll im Licht funkelte. An ihrer beiden Geburtstag überraschte er Marieke mit seinem ganz besonderen Geschenk. Sie war tief gerührt und bedankte sich von Herzen. Auch die Witwe und der alte Steinschleifer waren bewegt, nicht zuletzt, weil sie die Liebe der beiden zueinander sahen.
Marieke und Klaus waren gerade einmal zwanzig Jahre alt, als im Land ein schrecklicher Krieg ausbrach. Auch Klaus wurde eingezogen. Bevor er ging, legte er Marieke die Kette um den Hals und bat sie, diese als Zeichen seiner Liebe zu bewahren – und niemals wegzugeben. Sollte sie es dennoch tun, würde sie seine Liebe und Treue verraten. Marieke versprach, die Kette wie ihren Augapfel zu hüten und beim Tragen immer an ihn zu denken.
Viele Monate vergingen, und der Krieg dauerte immer noch an. Die alte Witwe, die sie einst so fürsorglich aufgenommen hatte, war bereits verstorben, ebenso der Steinschleifer. Zu allem Übel musste nun auch noch der Knecht, der auf dem Hof half, zum Kriegsdienst einrücken. Marieke blieb allein mit der Arbeit zurück. An einem sonnigen Novembermorgen beschloss sie, in die Stadt zu fahren, um auf andere Gedanken zu kommen.
Dort angekommen, war sie erstaunt, wie unberührt das Leben vom Krieg schien. Frauen und Männer liefen geschäftig durch die Straßen, Kinder spielten und überall wurden Waren feilgeboten. Vor dem Schaufenster eines Juweliergeschäfts blieb sie stehen, überwältigt von der glitzernden Pracht. Der Besitzer kam aus seinem Laden und bat sie herein. Er hatte bereits die Kette um ihren Hals bemerkt, lobte die Kunstfertigkeit, mit der sie hergestellt worden war und bot dem Mädchen eine Schaumperlenkette mit Silberverschluss zum Tausch an. Nach kurzem Überlegen lehnte Marieke dankend ab und erklärte, dass dieses Schmuckstück unverkäuflich sei, da es für sie eine ganz besondere Bedeutung habe.
Noch in Gedanken stieß sie auf der Straße mit einem Bernsteinhändler zusammen. Auch er bewunderte die Perlen und er versuchte, sie zum Tausch gegen eine seiner Bernsteinketten zu überreden. Er erzählte ihr, dass Bernstein ein uraltes, aus Harz gewachsenes Gestein sei und zu den kostbarsten Geschenken der Natur gehöre. Doch auch ihn wies Marieke bestimmt ab. Verwirrt über all die Aufdringlichkeit, die ihr begegnete, hatte sie keine Lust mehr, länger zu bleiben.

Sie machte sich auf den Heimweg, der sie am Jahrmarkt vorbeiführte. Zwischen den Buden und Ständen herrschte ein fröhliches, buntes Treiben. Marieke zwang sich, nicht stehen zu bleiben. Da wurde sie von einer schwarzhaarigen alten Frau mit Kopftuch angesprochen, die einen abgedeckten Käfig neben sich stehen hatte. Als Marieke genauer hinsah, erkannte sie, dass sich darin verschiedene Schlangen befanden.
Die Alte lobte die Schönheit der jungen Frau und meinte, es sei ihrer nicht würdig, eine so einfache Perlenkette zu tragen. Sie wollte ihr stattdessen eine goldene Armspange geben, die einst einer ägyptischen Prinzessin gehört hatte und angemessener für sie sei. Bevor sich Marieke versah, streifte ihr das alte Weib die Spange über den Arm und riss ihr die Kette vom Hals. Die junge Frau verlor dabei fast das Bewusstsein und taumelte zur Stadt hinaus. Dort brach sie ohnmächtig zusammen.
Als sie wieder zu sich kam, sah sie sich von einer blökenden Schafherde umgeben. Der Schäfer half ihr auf und berichtete, was geschehen war. Da Marieke sich immer noch nicht gut fühlte, brachte er sie zu seiner Frau in die Schäferhütte. Dort wurde sie drei Tage lang gepflegt, bis sie wieder bei Kräften war. Am dritten Abend brachte der Schäfer einen jungen Mann mit nach Hause, der im Krieg an den Füßen verwundet worden war und kaum gehen konnte.
Marieke erkannte Klaus sofort. Voller Freude lief sie auf ihn zu, um ihn freudig zu begrüßen. Doch der stieß sie zurück, als er sah, dass sie die Kette nicht trug. Sein Blick fiel stattdessen voller Abscheu auf die goldene Spange, die Marieke nun am Arm hatte. Sie flehte ihn an, ihre Geschichte erzählen zu dürfen, aber Klaus wollte nichts davon hören.
Verzweifelt lief das Mädchen in die Nacht hinaus. Sie folgte der Straße nach Hüls, kam jedoch in der Dunkelheit vom Weg ab und gelangte an einen Weiher. Hier setzte sie sich nieder und ließ ihren Tränen freien Lauf. Plötzlich trat ein Fischer aus dem Schatten — in der einen Hand hielt er noch sein Fischeisen und in der anderen einen Dreizack, da er in der hellen Mondnacht auf Fischfang war. Er beruhigte Marieke, denn er hatte bereits vom Schäfer erfahren, was ihr zugestoßen war.
Der Fischer deutete mit seinem Eisen in Richtung der Jahrmarktszelte und erklärte Marieke, dass sie der Sumpfhexe begegnet sei — einer alten Zauberin, die schon lange auf der Suche nach den Perlen war, die ihr neue Macht verleihen sollten. Die Sumpfhexe wolle, so erzählte der ewige Niederrheinfischer weiter, das Land am Rhein versumpfen lassen, um es für Menschen unbewohnbar zu machen. Er wolle Marieke gern helfen, der Widersacherin die Kette wieder abzunehmen. Wenn das gelänge, würde sie nicht nur die Macht über Marieke sondern auch über einen großen Teil des Landes am Niederrhein verlieren.
Marieke, so fuhr der Fischer fort, solle in der nächsten Nacht um die neunte Stunde an der derselben Stelle wieder auf ihn warten. In dieser Nacht würde Vollmond sein, vor dem sich die Hexe fürchte und deshalb immer fest schlafe. Gemeinsam würden sie dann zum Jahrmarkt gehen und sich in das Zelt der Hexe schleichen. Er selbst werde unsichtbar sein und die Schlangen ablenken. Marieke müsse dem Krokodil sieben frische Kükeneier geben und dann die Kette unter dem Kopfkissen der Hexe wegnehmen. Doch sie dürfe nicht vergessen, die goldene Spange anschließend dort abzulegen.
Das Mädchen nickte dankbar, unter Tränen. Sie hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass sie seinen Worten nicht trauen konnte. Dann verschwand der Fischer so plötzlich, wie er gekommen war. Marieke machte sich unverzüglich auf den Weg nach Hause. Erleichtert dachte sie noch, dass die Kükeneier für den nächsten Tag kein Problem wären, da sie davon gerade genug auf ihrem Hof hatte.
Am nächsten Abend erschien der Niederrheinfischer pünktlich zur vereinbarten Zeit am Weiher. Das Mädchen hatte ihn schon ungeduldig erwartet, und natürlich hatte sie die frischen Kükeneier dabei. Dann machten sich die beiden in der Dunkelheit auf den Weg zum Jahrmarkt, der nun still und friedlich dalag. Der Mond wies ihnen den Weg.
Am Hexenzelt angekommen, lenkte der Fischer die Brillenschlange mit einem stark riechenden Pulver ab. Nachdem diese in einen tiefen Schlaf gefallen war, hielt er die Königsschlange mit seinem Dreizack fest. Da diese Gefahr gebannt war, schlich Marieke sich zum Lager der Hexe. Sie gab die sieben Kükeneier an das sich bedrohlich näherende Krokodil, dwelches sofort zu fressen begann. Dann tastete sich das Mädchen zum Lager der Hexe. Sie nahm all ihren Mut zusammen, griff – ungeachtet der züngelnden Haare der alten Hexe – unter das Kissen und zog die Perlenkette hervor. Dann streifte sie rasch das goldene Armband ab und legte es an seinen Platz. Ohne sich noch einmal umzusehen, lief sie aus dem Zelt, so schnell ihre Füße sie tragen konnten — genau, wie der Fischer es ihr geheißen hatte.
Am Weiher angekommen, wartete der Fischer bereits auf sie. Als er die im Mondlicht schimmernden Perlen um ihren Hals sah, jubelte er laut: „Die Hexe ist besiegt — sie kann den Niederrhein nicht mehr versumpfen!“ und hob triumphierend den Dreizack in die Höhe — und verschwand.
Kurz darauf klopfte Marieke an die Tür des Schäfers. Als dieser öffnete, lief sie mit glühenden Wangen zu Klaus und weckte ihn. Beim Anblick der Kette umarmte er sie glücklich. Natürlich wollten alle genau wissen, was geschehen war. Die junge Frau erzählte ihnen die Geschichte vom geheimnisvollen Niederrheinfischer und wie sich alles zugetragen hatte. Am nächsten Morgen bedankten sich Marieke und Klaus herzlich bei dem Schäfer und seiner Frau und verabschiedeten sich. Gemeinsam kehrten die beiden auf ihren Hof zurück, wo sie noch lange und glücklich zusammenlebten.

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