Der Basilisk

Hast du schon von den furchterregenden Basilisken gehört? In früheren Zeiten sollen verschiedene ihrer Art in den Niederlanden ihr Unwesen getrieben haben. In Dokkum und auch Oldeboorn verschwanden dutzende Menschen spurlos — angeblich alle ihre Opfer. Niemand weiß genau, woher diese Ungeheuer kamen oder wie sie den Menschen ihre Leben raubten. Sicher ist nur, es war grausam. Es heißt, diese Kreaturen der Unterwelt suchten stets die Dunkelheit auf und fürchteten das Licht. Meistens hausten sie in tiefen Brunnen oder finsteren Kellern.
Ihre Körper glichen denen einer gewaltigen Echse, ihre schuppenartige Panzerung klirrte und rasselte bei jeder Bewegung. Entlang des Rückens zogen sich scharfe, messerartige Stacheln. Am furchteinflößendsten war jedoch ihr Kopf – halb Drache, halb Hahn – mit gekrümmten Schnabel und großen, glühend roten Augen. Aus diesen Augen schienen Flammen zu schlagen, die bis ins Herz eines jeden Lebewesens vordrangen und jede Lebenskraft verzehrten und letztendlich nur noch ein Häufchen Asche übrig ließen.
Das Ungeheuer in Utrecht
Auch in Utrecht lebte einst ein Basilisk – angeblich der größte seiner Art auf der Erde. Er war aus einem Hahnenei geboren, das von einer Schildkröte ausgebrütet worden war. Nach dem Schlüpfen kroch das Jungtier in den tiefen, dunklen Keller einer Bierbrauerei, wo es kein Licht erreichte. Hier lief es auch keine Gefahr, in die eigenen Augen zu blicken. Denn selbst wenn es nur das eigene Spiegelbild war, gab es kein Entrinnen mehr.
Schon bald verschwanden Menschen. Zuerst war es ein Braugeselle, der im Keller etwas holen sollte – er wurde nie wieder gesehen. Dann sein Meister, der nach ihm gesucht hatte … Wer auch immer hinabstieg, jeder bezahlte dafür mit seinem Leben. Es waren viele, bevor man entdeckte, dass sich ein Basilisk unter dem Haus verkrochen hatte. Daraufhin wurde die Tür des Kellers verbarrikadiert, um die Bestie für immer in ihrem dunklen Versteck einzusperren.
Doch selbst verschlossen blieb der Ort unheimlich, weshalb die meisten Menschen einen großen Bogen um das Haus machten. Auch wenn sie nicht in direkter Nähe waren, konnten sie noch das Rasseln seines Panzers hören. Sie rochen den Schwefel, der nicht sichtbar war. Sie sahen die Asche, die eigentlich nicht unter der verbarrikadierten Tür hervordringen konnte. Jeder mied das Haus, um nicht sein Leben zu riskieren.
Die Jahre vergingen. Schließlich war ein ganzes Jahrhundert vergangen, ohne dass jemand das Monster besiegen konnte. Manchmal versuchten sich Wagemutige – schwer gerüstet, mit Schwert und Schild – doch fast alle starben, bevor sie überhaupt zum Schlag ausholen konnten. Die Anzahl der Opfer wuchs stetig und ein Ende dieser fürchterlichen Geschehnisse war nicht in Sicht.
Der junge Held
Eines Tages trat ein Jüngling vor, der den Basilisken besiegen wollte. Er war kaum den Kinderschuhen entwachsen, doch seine Erscheinung war die eines Mannes — groß, schlank und mit blond gewelltem Haar. So edel wie seine äußere Erscheinung, so war auch sein Charakter, geprägt von Unschuld und Rechtschaffenheit.
Die Leute waren entsetzt. Viel stärkere und erfahrenere Männer waren bereits gescheitert. Sie wollten verhindern, dass er sein junges und vielversprechendes Leben wegwarf und versuchten ihn zu überzeugen, von seinem Vorhaben abzulassen. Als sie dann auch noch sahen, dass er keine Waffen bei sich trug, wurden ihre Zweifel immer größer und sie verstellten ihm den Weg.
Doch der junge Mann blieb ruhig. Sein Lächeln und der Optimismus, den seine blauen Augen ausstrahlten, wichen nicht von seinem Gesicht. Er zeigte auf das Holzbrett vor seiner Brust und forderte die Umstehenden auf: „Bindet mir das Tuch fest um die Augen!“ Alle weigerten sich und hielten es für jugendlichen Unsinn. Da verband er sich selbst die Augen und wickelte sein Gesicht in ein langes Tuch. Die Umstehenden wollten ihn noch zurückhalten, aber er ging mit so großer Selbstsicherheit zum Keller, dass jeder zurückwich und ihn passieren ließ.
Der Abstieg
Er öffnete die Tür und ging die Treppe hinunter. Dabei tasteten seine Füße nach den Stufen. Sein Herz spürte jedoch keine Angst oder irgendein Zögern. Unten angekommen empfing ihn stickige, schweflige Luft und er hörte das furchteinflößende Rasseln von Schuppen. Der Basilisk war auf ihn aufmerksam geworden und kam nun auf ihn zu. Stinkende Rauchschwaden schlugen dem Jüngling entgegen, doch er ging unbeirrt weiter und kniff unter dem Tuch die Augen noch dichter zusammen.
Seinem Gefühl vertrauend, bewegte er sich in kleinen Schritten auf das Ungeheuer zu. Der Basilisk hob wutschnaubend den Kopf, seine Augen sprühten vernichtende Feuerpfeile – doch der Junge blieb unversehrt, blind für den tödlichen Blick. Wütendes Unverständnis erfasste das Ungetüm. Der Jüngling machte noch zwei Schritte vorwärts, dann ergriff er das Holzbrett und drehte es um.
Der Blick in den Spiegel
Der Basilisk starrte – und sah sich selbst. Ein gellender Schrei grollte durch den Keller. Er sprang zurück, doch es war zu spät. Das Feuer seiner Augen traf sein eigenes Herz. Röchelnd wand er sich und versuchte verzweifelt sich in die dunkelste Ecke des Kellers zu retten. Doch die tödlichen Flammen fraßen sich unaufhaltsam durch seinen Leib.
Noch einmal peitschte der Schwanz über den Boden, das Rasseln der Schuppen hallte durch die Finsternis – dann brach das Ungeheuer zusammen. Flammen schlugen über ihm zusammen, bis nur noch ein kleiner Haufen Asche übrig war.
Die Rettung der Stadt
Als der Jüngling zurückkehrte, brach die Stadt in Jubel aus. Die Kirchenglocken läuteten, Menschen strömten auf die Straßen, feierten und trugen ihren Helden auf den Schultern. Unschuld und Mut hatten vollbracht, wozu die Waffen nicht fähig gewesen waren – und Utrecht war endlich vom Fluch des Basilisken befreit.