Der Anfang

 

Als Anouk auf die Welt kam, war ihr im ersten Moment furchtbar kalt. Dann spürte sie etwas Warmes und Raues über sich strei­chen. Sie riss die Augen auf, wobei sie am Anfang durch das grelle Licht geblendet wurde. Doch dann sah sie die große Kuh, die sie liebe­voll anschaute und weiter abschleckte. Ein wohliges Gefühl erfasste ihren kleinen Körper. Unwill­kür­lich fing sie an zu blöken. Ihre Mutter lächelte sanft und gab ihr einen kleinen Stups.

Der Stall von Anouk und ihrer Mutter war ein Verschlag, welcher aus einer Ziegel­mauer und zwei Bret­ter­wänden aus dunkel­braunem Holz bestand. Nach vorn hin war ihre Behau­sung offen, mit Gitter­stäben abge­trennt. Hier stand auch ein großer Trog, wo ein zwei­bei­niges Tier mit seinen Vorder­läufen Essen hinein­schüt­tete. Am Anfang wunderte sich Anouk, wie man auf zwei Beinen laufen konnte, ohne dabei umzu­fallen. Sie fand das mehr als eigen­artig. Doch da dieses Lebe­wesen, das sich Bauer Willem nannte, immer genü­gend Fressen brachte, konnte sie sich schnell mit seinem eigen­ar­tigen Aussehen anfreunden.

Anouk fühlte sich die ersten Tage glück­lich und zufrieden. Wenn sie durstig war, konnte sie bei ihrer Mutter trinken. Wenn sie müde war, dann benutzte sie ihren Bauch als Kopf­kissen und döste so behag­lich ein. Anouk lag meis­tens in der hinteren, mit Holz verklei­deten Ecke. Vorn beim Futter­trog blies nämlich ein unge­müt­lich kalter Wind. Sie konnte auch von hier aus noch eine Menge sehen und natür­lich hören. Ruhig war es sowieso nie. Die Geräu­sche von den anderen Kühen waren ihr stän­diger Begleiter und wenn sie sich nicht irrte, mussten es noch eine ganze Menge anderer Kühe sein. Oft bevor sie die schlür­fenden Schritte des Zwei­bei­ners wahr­nahm, war es selbst uner­träg­lich und ersti­ckend laut. Anouk hatte dann das Gefühl, dass selbst die Luft muhte und zitterte.

Jeden Tag konnte Anouk ein wenig mehr. Am Beginn war es ihr noch schwer gefallen, aufzu­stehen und sich auf den Beinen zu halten. Jedoch nach kurzer Zeit machte sie bereits sichere kleine Sprünge, ohne dabei zu wanken. Anouk war in diesen Momenten richtig stolz auf sich selbst.

Die ange­nehme und fried­liche Zeit dauerte jedoch nicht lange an. Eines Morgens wurde Anouk abrupt von ihrer Mutter getrennt. Sie verstand die Welt nicht mehr. Ihre Mutter stupste sie noch aufmun­ternd an, so wie sie es immer tat, wenn sie ihr Mut machen wollte. Dabei war es ihr deut­lich anzu­merken, dass es ihr genauso schwer wie Anouk viel. Anstelle ihres alten Stalls musste Anouk nun in eine mit Eisen­stange abge­trennte Ecke mit einer Milch­fla­sche. Alles hier war kalt und leer. Ihre Mutter wurde wieder zu den anderen Kühen in den großen Anbau gebracht.

Anouk fühlte sich jämmer­lich einsam. Sie blökte, aber das half und brachte nichts. Manchmal kam jedoch Becky, die Tochter des Bauern, in den Stall. Das war eine will­kom­mene Abwechs­lung. Becky hatte Mitleid mit der kleinen Kuh und strei­chelte sie ein wenig. Dabei sprach sie leise mit ihr. Mit der Zeit wurde es selbst zur Gewohn­heit, dass Becky jeden Morgen, bevor sie zur Schule ging, einen kurzen Besuch bei Anouk abstat­tete. Oft brachte sie ein kleines Stück­chen Zucker vom Früh­stück aus der Küche mit. Anouk leckte das kleine Stück Zucker aus der kleinen Hand von Becky und sah sie mit ihren großen Kuller­augen traurig an. Dabei war sie jedoch wirk­lich glück­lich über diesen Moment des Tages.

Manchmal besuchte Becky Anouk auch nach der Schule. Sie brachte dann ein Buch mit, setzte sich auf eine Decke, die sie neben Anouk aufs Stroh legte. Anschlie­ßend las sie Anouk aus einem Buch vor, was der kleinen Kuh richtig gut gefiel. Sie fand es schön, dass jemand für sie da war. Natür­lich hörte sie auch gern die Geschichten und lauschte gespannt. Auch Becky fand es prima, da sie gern vorlas und sie endlich jemanden hatte, der ihr ganz allein zuhörte. Insbe­son­dere gefielen Anouk die Bücher, die über die Berge erzählten. Becky liebte diese Bücher. Viel­leicht auch, weil ihre Oma in den Bergen wohnte. Vor allem liebte sie die Geschichten mit Heidi.

Einmal erzählte Becky, dass sie viele ihrer Bücher bei der Bib auslieh. Anouk konnte sich darunter nicht viel vorstellen. Sie fand, dass Bib ein lustiger Name war. Da Anouk noch nicht über den Bauernhof hinaus gekommen war, stellte sie sich in ihrer Fantasie die Bib als ein riesen­großes Huhn vor, welches jeden Tag verschie­dene Bücher legte und ausbrü­tete. Darum hoffte sie inständig, dass jemand ganz beson­ders gut für dieses Huhn sorgte und genug zu Fressen gab, damit es weiter Bücher legen konnte, die ihr dann natür­lich vorge­lesen werden konnten.

Die Zeit auf dem Bauernhof ging so fast unmerk­lich weiter. Die Tage wurden sonniger, die Luft erwärmte sich langsam und es regnete nicht mehr so häufig. Der Früh­ling brachte jedoch noch andere Verän­de­rungen mit sich — diesmal gute, beson­ders für Anouk. Sie durfte nämlich zusammen mit den anderen Kühen auf die Weide. Was für ein Fest! Sie fühlte sich wunderbar frei. Nicht nur sie, alle Kühe waren über­glück­lich, um wieder auf die Wiese zu kommen. Weil das Land flach war, konnte der Wind unge­hin­dert über die Weiden wehen und brachte neben dem erdigen auch den salzigen Geruch des Meeres mit.

Und noch etwas anders war herr­lich, um draußen im Freien zu sein. Anouk war nämlich wieder mit ihrer Mutter zusammen. Den ersten Tag auf der Weide begrüßten sie sich mit einem lauten „Muhhh…“. Ihre Mutter lächelte dazu sanft mit ihren großen runden, dunklen Augen. Sie probierten so oft wie möglich beiein­ander zu sein, um zusammen zu grasen.

Zudem hatte Anouk auch noch einen Freund in der Herde gefunden. Carlo, ein anderes Kalb, fand sie ganz beson­ders nett. Carlo war unge­mein schüch­tern und manchmal stol­perte sogar über seine eigenen Beine. Es war jeden­falls lustig, mit ihm fangen zu spielen oder sich beim gemein­samen Versteck­spiel hinter den großen Kühen zu verste­cken. Manchmal standen die beiden aber auch nur zusammen auf der Weide und stierten sehn­süchtig in die Ferne. Dabei strich der Wind über sie hinweg und sie hatten das Gefühl, als wollte er sie sanft strei­cheln.

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Anouk auf Reisen bei den Drachewolke Geschichten, Der Anfang

 

 


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