Warum nur?

 

Auch wenn die Kühe ihre Zeit auf der Weide genossen, war das Leben auf dem Bauernhof doch nicht für alle so rosig. Der Bauer und seine ganze Familie mussten immer mehr arbeiten, wobei die Ankauf­preise, vor allem für Milch, immer weiter sanken.

Eines Abends hörte Becky zufällig bei der Unter­hal­tung am Tisch, dass es notwendig war, dieses Jahr einige Kälber früher als gewöhn­lich zu verkaufen. Mit dem so verdienten Geld konnten ein paar drin­gende Ausgaben gedeckt werden. Die Wahl fiel auch auf Anouk. Sie hatte sich prächtig entwi­ckelt und würde sicher einen guten Preis beim Schlachter einbringen.

Die Gurke, welche Becky gerade noch herz­haft abge­bissen hatte, blieb ihr im Hals stecken. Gleich­zeitig schossen ihr die Tränen in die Augen. Warum denn gerade Anouk? Das war unge­recht! Sicher wusste sie, was der Sinn und Zweck des Hofes waren. Dazu gehörte natür­lich auch, dass Tiere gemästet wurden, die später verkauft wurden. Auch was dann mit ihnen passierte, wusste sie. Doch darüber wollte sie am liebsten gar nicht weiter nach­denken.

Nach dem Essen ging Becky zu Anouk in den Stall. Weinend saß sie neben ihrer Kuh und brachte kein Wort heraus. Anouk merkte, dass etwas nicht stimmte und es wirk­lich schlimm sein musste. Sie stupste Becky mit ihrem Kopf an, genau wie ihre Mutter es immer bei ihr getan hatte und versuchte ihre kleine Freundin auf diese Weise zu trösten. Anouk hatte selbst keine Ahnung, was das wirk­liche Problem war. Nach ihrem langen Tag auf der Weide schlum­merte sie darum auch gleich ruhig und zufrieden ein, als Becky wieder gegangen war.

Becky konnte jedoch in dieser Nacht gar nicht gut schlafen. Grübelnd und auf ihrer Lippe kauend, saß sie auf dem Rand ihres Bettes und starrte in die Dunkel­heit. Genauso dunkel wie ihr Zimmer waren auch ihre Gedanken. Sie wurde immer miss­mu­tiger. Wenn sie es sich so richtig über­legte, fand sie vieles einfach nicht mehr schön. Sie wohnte auf einem abge­le­genen Bauernhof, ihre Eltern hatten meis­tens keine Zeit für sie, Freun­dinnen gab es auch nicht so viele und die Bücherei hatte auch nicht mehr so viel Inter­es­santes zu bieten. Selbst ihre Lieb­lings­katze streunte lieber auf den Feldern herum, anstatt bei ihr zu sein. Und nun sollte Anouk, die einzige, die immer für sie da war, zum Schlachter. Das war einfach nur unge­recht! Warum mussten die Menschen auch junge Kühe fressen! Über­haupt warum müssen Tiere gegessen werden. Mit zusam­men­ge­pressten Lippen und gerun­zelter Stirn schlief Becky an diesem Abend erst sehr spät ein.

Am darauf­fol­genden Morgen kam ihr eine bril­lante Idee. Ich spreche mit Oma, dachte Becky. Die versteht mich und viel­leicht kann ich früher zu ihr in die Ferien fahren und … viel­leicht kann sie mir mit Anouk helfen. Becky probierte sofort, ihre Groß­mutter am Morgen und dann noch verschie­dene Male mittags anzu­rufen. Selbst am Abend nahm sie das Telefon mit in Klei­der­schrank, wo sie sich versteckte und es noch­mals versuchte. Aber niemand nahm ab. Es ist doch immer dasselbe, dachte sie, wenn man jemanden braucht, ist garan­tiert niemand da. Und sie fühlte sich noch einsamer als am Abend zuvor.

Am nächsten Morgen fragte sie unge­duldig ihre Mutter, ob sie wüsste, wie es Oma geht. Die schaute Becky verblüfft an und sagte dann miss­mutig: „Na, am Swim­ming­pool sicher besser als uns hier im Moment!“. Und da fiel es Becky wieder ein! Wie konnte sie das vergessen? Oma war doch für ein Monat in Spanien und kam erst nächste Woche zurück. So ein Mist aber auch! Warum musste sie sich auch gerade jetzt in Spanien rumtreiben? Ihre Oma war die Einzige, die ihr jetzt helfen konnte! Becky‘s Mutter, die auch schon den ganzen Tag schlechte Laune hatte, fragte sich, warum ihre Tochter eben­falls den ganzen Tag mit einem fins­teren Gesicht in der Gegend herum­lief. Aber sie hakte nicht weiter nach, dazu war sie viel zu müde.

Becky ging zu Anouk in den Stall. Die Kuh freute sich. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht, weil sie ihre Freundin den ganzen Tag noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Anouk schaute Becky besorgt an. Becky hatte immer noch so einen fins­teren Gesichts­aus­druck. Irgend­etwas stimmte hier absolut nicht! Anouk hatte nicht die geringste Ahnung, was hier vor sich ging.

Als Becky kurze Zeit später mit dem Fuß im Stall aufstampfte und schimp­fend loslegte: „Das ist so ein Mist! Das ist so ein verdammter, dummer, idio­ti­scher Mist!“ erschrak Anouk enorm. Danach wurde es ganz still. Da sah Anouk die Tränen in Becky‘s Augen schim­mern. Sie wusste nicht, wie sie helfen konnte und fühlte sich hilflos. Und sie hätte doch so gerne etwas getan! Da stampfte Becky, vor sich hin murmelnd, schon wieder aus dem Stall.

 

Anouk auf Reisen bei den Drachewolke Geschichten

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